Orangensaft gibt Studenten Kraft
Ein Verhüllungsprojekt macht Werbung für ein Getränk, für weitere Sponsoren und für die eigenen Studiengänge.
Probieren geht über studieren, heißt es. Dass sich Theorie und Praxis verbinden lassen, zeigt sich spätestens am achten Mai 2000 in Stuttgart, als das Gebäude der Hochschule für Druck und Medien HDM in einem etwas anderen Glanz erstrahlt. Eine riesige, liegende Packung Orangensaft ist das Endergebnis eines halbjährigen Studienprojektes: Die Verhüllung eines Teils des Fachhochschulgebäudes.
Der Initiator des Projektes ist Professor Eberhard Wüst. Er ist bestrebt, dass seine Studenten am Ende des Studiums nicht nur fit sind in der Theorie, sondern ihr erlerntes Wissen auch anwenden können. Um Kompetenzen wie Führungsvermögen, Kreativität und Kommunikationsfähigkeit zu fördern, stell er seinen Studenten im vergangenen Oktober zu Beginn des Semesters eine Frage, ob sie eine theoretische Vorlesung über das Thema Management hören – oder lieber ein eigenes Projekt bearbeiten möchten. Die Studenten der Drucktechnik und Verpackungstechnik entscheiden sich schnell: Einmal selbst etwas tun ist besser, als hundertmal hören. Die praxisgerechtere Art des Studierens wird in Baden-Württemberg seit einiger Zeit unter dem Namen LARS (LeistungsAnreizSysteme in der Lehre) besonders gefördert.
Eine Idee, wenig Personal und kein Geld
Professor Wüst hat die Idee, das Gebäude zu verhüllen. Daraufhin veranstalten die Studenten einen Kreativtag, an dem sie Vorschläge sammeln und überdenken, wie diese umgesetzt werden können. Das Gebäude soll mit einem riesigen Digitaldruck verpackt werden. Über ein Motiv des Großplakats können sie zu diesem Moment nur spekulieren, denn das ist von den Sponsoren abhängig. Sie wollen das Gebäude der HDM nicht verstecken, sondern – gerade im Gegenteil – es auffällig in der Landschaft präsentieren. Schließlich ist die Verpackungsaktion eine Werbung für die gesamte Fachhochschule und ihre Studiengänge. Der Name des Projekts Pack’massXXL soll Programm sein; Pack’mass ist der süddeutsche Ausdruck für: “Gehen wir’s an.” Das XXL steht für das Format des Digitaldrucks.
Damit das Projekt von Anfang an auf die richtigen Schienen kommt, behandeln die neun Studenten und ihr Professor das Verpackungsprojekt wie eine eigene Firma. Zunächst stehen sie einen Zeitrahmen und einen Netzplan auf, in denen die Zusammenhänge der einzelnen Aufgaben erkennbar werden. Sie gründen Abteilungen für Finanzen, Marketing, Logistik und Design, damit jeder Beteiligte eine klare Vorstellung von seinen Aufgaben bekommt. Das Startkapital der Firma Pack’massXXL beträgt eine Mark.
Schirmherr des Projektes ist Professor Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, der gerne kreative Projekte fördert, wie er der WERBETECHNIK erläutert. Er nutzt das an die Eröffnungsfeier anschließende Symposium, um in dem Vortrag “Hightech heißt Null Verschwendung” seine Ideen für eine energiesparende Gesellschaft vorzutragen. Dies haben die neun Studenten schnell gelernt: Der Name des Wissenschaftlers und Bundestagsabgeordneten ist ein Blickfang auf den Plakaten und Broschüren.
Vom Unterschied zwischen Theorie und Praxis
Wie befestigt man ein Großplakat? Die Studenten glauben zunächst, dass sie einfach einige Löcher in das Dach des Gebäudes bohren könnten, um die Plane dann an einer Holzkonstruktion zu befestigen. Den Vorschlag tragen sie dem Ingenieur Dieter Sandner vor, der bei der Errichtung des Neubautraktes zwei Jahre zuvor Chefstatiker war. Er muss sie erst einmal über die Belastungen solch einer Gebäudeverhüllung aufklären: Das Dach ist eine leicht gewölbte Spannbetonkonstruktion. Noch so kleinen Bohrlöcher würden die Stabilität des gesamten Gebäudes gefährden.
Die zweite Idee ist, die Plane an den Pflanzkübeln auf dem Dach zu befestigen. Der Statiker kann das erst recht nicht gutheißen: Bei Gewitterböen wären die Betonkübel viel zu leicht, um mit einer Maximalbelastung von 35 Tonnen Flächendruck die Plane zu halten. Statt dessen schlägt er eine selbststehende Stützkonstruktion vor, die vor die Fassade gestellt wird. Die bedruckte Folie soll wie ein Bild in einem Rahmen gespannt werden, damit kann sie frei schwingen. Dieses Rahmensystem wird fünf Monate später von der Firma Feig aus Seewald aufgestellt. Achtzehn Leimbinder sind insgesamt nötig, um die Stahlrahmenkonstruktion stabil zu befestigen. Jeder einzelne wiegt 800 Kilogramm.
Im Dezember ist die Hülle fertig geplant, die Statik ist gesichert und der Bauantrag genehmigt. Das einzige, was fehlt, sind die Sponsoren. Als die Verhüller das gesamte Projekt durchrechnen, kommen sie auf Kosten von rund einhunderttausend Mark. Jetzt ist die Marketing-Gruppe gefordert. Bundesweit werden alle potentiellen Partner angeschrieben und angefaxt; die Ohren sind vom Telefonieren rot. Ein Licht am Ende des finanziellen Tunnels wird est sichtbar, als die Firma Combibloc ihr Logo anbietet.
Der Verpackungshersteller vermittelt den Kontakt zur Firma Eckes: Sie gibt das Design der Packung für den Orangensaft “Hohes C” frei und beteiligt sich an den Kosten.
Dann erklärt sich die Verseidag-Indutex aus Krefeld bereit, das Druckmaterial zu spendieren, und Digital-Color Studio aus Göttingen übernimmt den Druck kostenlos.
Der Konfektionierer Arnegger GmbH aus Leutkirch hat vom dem Pack’massXXL Projekt gehört und bietet seine Hilfe an. Ein Angebot unter Selbstkostenpreis kommt vom Gerüstbauer Feig aus Seewald. Auch die Landesregierung von Baden-Württemberg fördert das Projekt. Sie sieht ihr Bildungsprogramm LARS mit der Verhüllung gut umgesetzt.
Aus Nährwerten werden Lehrwerte
Jetzt endlich kann die Designgruppe das endgültige Motiv der Verhüllung entwerfen. Dazu muss die Orangensaftpackung genau kopiert werden. Eine Kleinigkeit wird jedoch verändert, an der erkennbar ist, dass das Projekt für die HDM werben soll: Statt der Nährwerte für “Hohes C” stehen dort die “Lehrwerte” der Studiengänge Drucktechnik und Verpackungstechnik. Diese sind im Stil der Originalverpackung gehalten: “Wenn Ihnen die Zukunft am Herzen liegt, kommen Sie zu uns und entdecken die Möglichkeiten. Ein Studium an der Hochschule für Druck und Medien enthält einen reichhaltigen Mix aus Wirtschaft, Technik, Produktion und Gestaltung.” Es folgen anstelle der Kalorien und Zuckergehalte tabellarisch die Inhalte der Studienfächer Betriebswirtschaftslehre, Maschinenbau, Materialkunde, Medienkunde und Design.
Bei der praktischen Umsetzung des Entwurfes gibt es für die Studenten von Pack’massXXL viel zu lernen. Zunächst wird eine 1,5 Liter Packung “Hohes C” fotografiert. Es sol di Grundlage für den späteren Großdruck auf einem Scitex Grandjet Großformatdrucker werden. Das Foto birgt ungeahnte Schwierigkeiten, denn der Rasterpunkt eines 60er Rasters wird später auf der Folie die Kantenlänge von sechs Zentimetern haben. Ein kleines Staubkorn oder ein Fussel auf dem Foto nimmt in der XXL-Vergrößerung den Platz eines Fußballs ein. Um das zu vermeiden, müssen die Studenten in der Vorstufe der Bildbearbeitung sehr genau sein. Erst dann kann die Firma Digital Color Studio mit dem Großdruck beginnen. Sie bedruckt etwa 900 Quadratmeter beidseitig beschichtetes Polyestergewebe.
Die letzten beiden Tage vor dem Event sind die aufregendsten des ganzen Projektes. Mittlerweile sind aus dem harten Kern der neun Pack’massXXL Studenten dreißig Personen geworden, die sich gegenseitig immer wieder motivieren. Am Ende helfen die Eltern, Frauen und Freundinnen, bringen heiße Pizza und kalte Getränke auf die Baustelle oder kochen Kaffee.
Am Samstag vor der feierlichen Eröffnung arbeitet die Mannschaft 17 Stunden am Stück. Geplant ist, das am Vormittag die erste Plane fest vertäut ist und am späten Nachmittag die Vorderfront fertig hängt. Immer wieder kommt es zu Verzögerungen. Als ein Gewitter losbricht, muss sich zeigen, ob die Verankerungen richtig gesetzt und die Versteifungen gut platziert sind. Nach dem Regen ist allen klar, dass noch weitere Versteifungen nötig sind, um die Spitzenbelastungen abzufangen. Spät in der Nacht fällt endlich die letzte Plane im Schein der Flutlichter und unter dem Jubel aller Beteiligten.
Das Gebäude der HDM ist für drei Wochen – bis Pfingsten – eine liegende Orangesaftpackung. Was danach mit dem Folien-Material geschieht, steht zur Eröffnung am achten Mai noch nicht fest. Die Gruppe möchte unbedingt vermeiden, dass die Folien verbrannt werden. Statt dessen wollen sie versuchen, die Folien zu versteigern. Wenn das nicht möglich ist, soll es eine “Aktion Schere” geben. Jeder, der mag, darf sich sein Lieblingsstück herausschneiden und mit nach Hause nehmen. Oder noch besser: Wenn es möglich ist, soll das Material zu Taschen verarbeitet werden.
Veröffentlich Fachmagazin WERBETECHNIK 4/2000
Copyright: Volker Kienast