Picknick mit Hufeisen
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind laut Statistik ein Land des Massentourismus, doch das fällt durch die Weite des Landes in einigen Regionen kaum auf. Noch manche „Geheimtipps“ sind zu entdecken, und nebenbei findet der Besucher Verständnis für so manche Marotten seiner Gastgeber.
Und jetzt kommen wir zu dem versprochenen Geheimtipp“ sagt Reiseleiter Martin und die Gruppe fragt sich, wo hier in der baumlosen, heißen und staubigen Einöde irgendwo in Arizona ein Tipp sein soll und wo hier ein schöner Picknickplatz liegen könnte. Schließlich hat sich jeder vor einer halben Stunde auf Geheiß des Reiseleiters in einem Supermarkt mit Sandwichs, Obst, Salat, Joghurt, viel Wasser und Rotwein aus Tetrapacks eingedeckt und freut sich auf eine gemütliche Pause.
Doch dann nimmt Martin die kleine Gruppe mit über einen Hügel und geht weitere dreihundert Meter durch kniehohe, halbvertrocknete Büsche, die Eidechsen flitzen aus dem Weg und die Luft flimmert. Erst allmählich wird deutlich, dass er auf einen Riss in der Erdoberfläche zusteuert. Der ist zunächst kaum zu erkennen, wird dann jedoch schnell größer und ist plötzlich riesig. Fünfzehn Meter vor dem großen Nichts stoppt der Reiseleiter die Gruppe und schlägt vor, erst einmal das Picknick unter den Felsüberhang in den Schatten zu stellen, um danach – bitte sehr langsam – auf den Abgrund zuzugehen. Dies ist wie viele andere ein guter Vorschlag, denn hinter der Kante geht es dreihundert Meter senkrecht hinunter. Kein Zaun schützt davor, hier ist Wildnis. Tief unten fließt in einer hufeisenförmigen Biegung des Colorado, deswegen heißt dieser Ort auch „horseshoe-bend“. Unten ändert sich auch die Farbe der Landschaft, denn die schmale Uferzone leuchtet sattgrün. So stellt man sich einen Geheimtipp vor!
Nach einer Stunde gemütlichen Picknicks kommen die nächsten Besucher: Eine mexikanische Rockband dreht mit ihrem kleinen Gefolge ein Musikvideo. Es ist eine skurrile Szene, wie die drei Musiker mit ihren Instrumenten an der Abbruchkante stehen, die Gitarrenhälse durch die Luft schwenken und ihren Song in die Kamera und in das Licht des Nachmittags singen.
Die meisten der Landschaften Arizonas sind einsam, was weniger mit der geringen Anzahl der Touristen zusammenhängt als vielmehr mit der Größe der Region. Selbst der Grand Canyon wirkt nicht überlaufen, selbst wenn es zehntausende Besucher am Tag sind.
Der Antelope Canyon in der Nähe der Stadt Page gehört nicht mehr ganz in die Kategorie „Einsam“: Kaum zweihundert Meter lang und nur wenige Meter breit, aber dennoch sehr beeindruckend. Wer ihn durchwandert, muss darauf achten, nicht über einen der vielen Fotografen zu stolpern, die stehend, kniend oder liegend mit Stativ und Kamera versuchen, das Licht und die gebänderten Rottöne des Sandsteins mit Langzeitaufnahmen einzufangen. Ob mit oder ohne Kamera, jeder Besucher dreht sich ständig mit dem Blick nach oben um sich selbst, um die Veränderungen im Spiel von Licht und Schatten und der Farbe Rot zu beobachten. Entstanden ist der Canyon wie alle anderen durch die Auswaschungen des Wassers, was hier in der Halbwüste Arizonas nur schwer vorstellbar ist. Doch dieser Erosionsprozess findet selbst heute noch statt und die Einwohner der Region warnen davor, nach einem Gewitter in den Canyon zu gehen. Dann braust eine Welle aus Schlamm durch den schmalen Felseinschnitt und reißt alles mit sich.
Ein weiterer Fleck, den kaum jemand kennt, heißt „hidden spring“, also „die versteckte Quelle“. Sie ist aus touristischer Sicht gar nicht so spektakulär, doch in diesem Fall ist der Weg dorthin das Ziel. Der nämlich muss vierbeinig und im Sattel bewältigt werden, etwa zwei Stunden lang durch eine Landschaft wie aus der Zigarettenreklame. Tausende knie- bis hüfthohe Beifussbüsche geben der Region ihren besonderen Duft. Die Quelle liegt auf dem Grundstück der Rockin-R-Ranch im Bundesstaat Utah. In Autonähe sind der Brice-Canyon, der Lake Powell und der Arches National Park zu erreichen, doch die Ranch liegt versteckt bei der Kleinstadt Antimony. Die Reiseleiter hier sind Cowboys. Als sie die kleine Besuchergruppe morgens zu den Pferden führen, stellen sie die Frage, wer denn heute zum ersten Mal reite. Nach entsprechendem Fingeraufzeigen bekommt die betroffene Person mitgeteilt, für ihn hätte man ein passendes Pferd, das auch noch nie geritten worden sei. Diesen Scherz hören die Pferde bestimmt jeden Morgen, doch es lockert die Stimmung auf und grenzt den vielleicht zu großen Respekt vor den Vierbeiner etwas ein.
Nach etwa zwei Stunden auf dem Pferderücken kommt die kleine Gruppe zu den tatsächlich versteckten Quellen. Von hier aus sind nur Felsen, Büsche und der Himmel zu sehen. Während des Picknicks erzählt Gordon aus seinem Leben. Er ist einer der Cow-boys, allerdings nur am Wochenende, denn unter der Woche verkauft er landwirtschaftliche Großmaschinen in Salt Lake City. Die Kinder sind aus dem Haus, seine Frau und er haben sich vor einigen Jahren getrennt. Zu Hause hält ihn am Wochenende nichts, deshalb komme er hierher auf die Ranch. Dieser Lebensrhythmus gefiele ihm und er wolle nirgends anders sein.
Freiheit, bis man sie nicht mehr will
Abends gibt es ein offizielles Fest zu Ehren der Gäste – und zur Freude der Ranch-Angestellten, da es eine Abwechslung im doch recht eintönigen Leben hier bedeutet. Nach einem wunderbaren Steak-Essen spielt eine zwei-Personen-Band hauptsächlich Country and Western und die Mitglieder der Reisegruppe nehmen am gemeinsamen Gruppentanz teil, selbst wenn die am Nachmittag erlernten Schritte noch etwas unsicher sind. Als dieser offizielle Teil dann gegen zehn Uhr beendet ist, laden die Cowboys auf eine Spontanparty in ihre Unterkunft ein, gemeinsam mit den Musikern und noch einigen anderen aus der Belegschaft der Ranch.
Als alle auf dem Balkon der Wohnscheune unter einem atemberaubenden Sternenzelt stehen, erzählen die beiden Musiker aus ihrem Leben. Die beiden Alt-Hippies erklären, dass es irgendwo in Mexiko einen „unglaublich freien Ort“ gibt, an dem alles so frei ist, dass sie nach einigen Jahren in einem bewussten Moment entdeckt haben, ihre Zeit dort nur in Drogenträumen zu vergeuden. Und wollten nur noch weg. Deshalb zogen sie nach Utah, wo offiziell noch nicht einmal Alkohol erlaubt ist. Es ist faszinierend, mit ihnen in dieser lauen Nacht auf einem Balkon inmitten von Marlborough-Country über das Leben im Allgemeinen und Musik im Besonderen zu plaudern, natürlich mit einem echten Bier in der Hand, schließlich ist man im Land der unendlichen Freiheit…
Infobox
Horseshoe-bend: am Highway 89 von Süden in Richtung Page, kurz vor der Grenze zwischen Arizona und Utah. An der Straße steht ein Schild mit der Aufschrift „Mile 26“. Auf dem kleinen Parkplatz aussteigen und dem Sandweg über den Hügel folgen.
Antelope Canyon: Einige Kilometer östlich der Stadt Page auf der Straße AZ 98. Von einem Parkplatz aus werden geführte Touren angeboten. Weitere Angebote für geführte Touren direkt ab Page.
Rockin-R-Ranch: www.rocknrranch.com
Veröffentlicht im Buch: Volker Kienast, Popstar einer Nacht.
Copyright: Volker Kienast