Hollywood, Außenposten Marokko

Was soll man schon tun, wenn man einen Film produzieren will, der im Himalaja spielt, man dort aber nicht drehen darf? Ausweichen in ein anderes Land! Marokkos Landschaften im Atlas-Gebirge bieten sich in etlichen Fällen an: Sie sind vielfältig und die Filmindustrie ist mittlerweile hervorragend ausgebaut. Auf einer Reise durch das Land sind viele Einstellungen wieder zu erkennen, die hier gedreht wurden, die aber kaum durch den Tourismus bekannt sind.

Sind wir jetzt in Tibet oder nicht? Wir stehen auf einer weiten Hochebene, die Luft ist klar, am Horizont glänzen schneebedeckte Bergrücken. Das könnte Tibet sein, wie man es sich landläufig so vorstellt, ist es aber nicht – war es jedoch schon einmal. Dieses Absurdum ist leicht zu erklären: Wir sind in Marokko, und das Land im Nordwesten Afrikas „verleiht“ quasi seine Landschaften an Hollywood und andere Filmschaffende als Kulisse für Orte, die im Original nicht zugänglich sind. Jetzt ist es Mai im Hohen Atlas, wir stehen auf etwa zweitausend Meter Höhe und stellen uns vor, wie es hier von Oktober bis weit in den März hinein aussieht: Tief verschneit, was den Tibet-Effekt noch erhöht. Genau diese Landschaft wurde zum asiatischen Hochland, als der Italo-Amerikanische Regisseur Martin Scorsese 1997 hier seinen Tibetfilm „Kundun“ drehte, da China eine Drehgenehmigung am Originalschauplatz verweigerte.

Unsere insgesamt sechzehn Tage lange Reise durch das Hinterland von Marokko führt allerdings nicht nur zu Filmschauplätzen; die sind eher Nebenprodukte auf der Fahrt durch die großartigen Landschaften. Zunächst fahren wir noch mit dem Bus, dann erschließen wir uns mit dem Landrover, mit Kamelen oder Mulis ein Land, das sonst hauptsächlich durch den Badetourismus an der Küste bekannt ist, aber wenig von den Gebirgsregionen zeigt. Unsere Tour geht von Casablanca aus direkt nach Rabat, weiter über Fes und dann in den Süden Richtung Mittlerer und Hoher Atlas. Südlichster Punkt ist Rissani, der Ausgangspunkt für Ausflüge zur größten Sanddüne des Landes – dem Erg Chebbi. Auf der Fahrt weit in den Westen nach Marrakesch geht es an der Filmstadt Ouarzazate vorbei. Und auf all diesen Fahrten werden Szenen aus „Lawrence von Arabien“, „Himmel über der Wüste“ oder „Gladiator“ lebendig.
Der Ort Ouarzarzate wurde 1928 als Garnisonsstadt der französischen Fremdenlegion gegründet. Von dieser Zeit ist nicht mehr viel zu erkennen und mittlerweile bietet die Filmindustrie neben dem Tourismus die meisten Arbeitsplätze. Die Menschen hier arbeiten als Kabelträger, Kulissenbauer, Fahrer, Techniker oder als Statisten. Scorsese hat für „Kundun“ der Einfachheit halber Hochland-Marokkaner als Statisten verpflichtet und ihnen die Haare kurz schneiden lassen. Denn wer weiß später im Publikum schon so genau, wie ein echter Tibetaner wirklich aussieht? Lediglich die wichtigen Rollen besetzte er mit Schauspielern aus Nepal.

Mittlerweile auf das Thema „Film“ eingestimmt, überlegen wir uns an verschiedenen Punkten, welche Filme an den einzelnen Plätzen und in den Landschaften gedreht werden könnten: Jede Menge Außerirdisches, wegen der gar nicht eintönigen Geröllwüsten, allerdings auch Schwarzwaldfilme wie im Winterferienort Ifrane. Der sieht mit seinen spitzen Schindeldächern so sehr nach deutschem Mittelgebirge aus, dass wir glauben, wir seien im falschen Film…
Auf dem Weg zur Kasbah Ait Benhaddou zwei Tage später fahren wir an den Atlas Movie Studios vorbei, und unser Reisebegleiter erzählt, welche Filme in dieser Studio-Anlage schon gedreht wurden. An den Kulissen, die überall herumstehen, ist das Erklärte gut nachzuvollziehen: Je nach Blick auf die Kulissen sind wir in Ägypten, Tibet oder im antiken Rom. Als wir wenig später Ait Benhaddou anfahren, erkennen wir schon aus der Ferne die riesigen Produktions-LKW. Hier läuft gerade der nächste internationale Drehtermin. Aber alles ist streng geheim und die Leute mit den großen Sonnenbrillen antworten nicht auf unsere Fragen, welcher Film gerade gedreht wird.

Das um 1920 gegründete Ait Benhaddou gehört zu den imponierendsten Zeugnissen der südmarokkanischen Architektur. Hier sind am Hang eines Berges gleich sechs Kasbahs – salopp gesagt wehrhafte Mehrfamilienhäuser aus Lehm – zu einem geschützten Wohnort verbunden. Seit einigen Jahren gehört die Anlage zum Unesco-Weltkulturerbe. Das bedeutet allerdings, dass an der Bausubstanz nichts mehr verändert werden darf. Nun ist die Aufnahme in die Liste der Unesco für den Ort sicherlich eine hohe Ehre, sie ernährt jedoch niemanden. Deshalb wird momentan an einem neuen Stadttor gebaut. Dass es an dieser Stelle keinen Zugang zur Stadt gibt, ist dabei nicht wichtig, denn für dieses Bauprojekt zählt allein der spätere Blickwinkel durch die Filmkamera: Im Hintergrund des Tores muss die Stadt zu sehen sein. Nach dem Drehen wird das Tor in Lehmbauweise dann wieder abgerissen…falls sich jemand die Mühe macht. Vielleicht bleibt es genauso stehen wie ein anderes Tor für den Film „Auf der Jagd nach dem Juwel vom Nil“ mit Michael Douglas oder eine braun angemalte Gipsbrücke, die ihren Teil zu dem Film „Gladiator“ beisteuerte. Die große römische Kampfarena wurde jedoch tatsächlich wieder abgetragen, weil sie den Zugang für die Touristen allzu sehr behinderte und die Souvenirhändler sich beschwerten.

Wer sich in Marokkos Landschaften bewegt, reist also auch durch die Filmgeschichte. Das wäre für eingeschworene Fans Grund genug, auch den Drehort des berühmtesten Films, der in Marokko spielt, zu besuchen. Doch ausgerechnet der ist ironischerweise nicht in diesem Land gedreht worden: Das Film-Casablanca von Humphrey und Ingrid bestand damals nur aus Holzkulissen irgendwo in Hollywood. Da fragt man sich, welcher Film überhaupt die echten Gegebenheiten zeigt und fährt doch lieber zu den echten Landschaften und Städten und lässt sie ohne filmische Verfremdungen auf sich wirken.

Infobox
Informationen über eine Young Line Reise nach Marokko bei Studiosus Reisen München GmbH, Postfach 500 609,
Telefon (089) 500 60 700
Fax (089) 500 60 100
Oder www.young-line-travel.com

Veröffentlicht bei: Neurotransmitter Reiseteil 10/2002

Copyright: Volker Kienast